Begründung und Wirksamkeit

Kontrolliertes Trinken war in Deutschland bis vor kurzem ein von Dogmen und Mythen umwehtes Tabuthema. Nicht selten wurde ein großer Bogen um dieses Thema gemacht und es wurde mit Floskeln abgetan ("Das geht nicht!"). Inzwischen hat sich durch Diskussionen, Vorträge, Publikationen und Medienberichte die Situation geändert.

Mittlerweile gibt es auch in Deutschland Angebote zum Erlernen des kontrollierten Trinkens sowie Fachleute für die Vermittlung. In anderen Teilen der Welt (England, Kanada, Australien, USA) sind ähnliche kT-Programme bereits seit Jahrzehnten etabliert und fester Bestandteil des Suchthilfeangebots. Es liegen mittlerweile viele wissenschaftliche Erkenntnisse zum kontrollierten Trinken vor, und seit Jahrzehnten gibt es englischsprachige Programme zum Erlernen eines selbstkontrollierten Umgangs mit Alkohol.

Im Folgenden möchten wir die Notwendigkeit einer solchen Vorgehensweise sowie die Effizienz der Programme in Kürze darstellen. Falls Sie an einer weitergehenden Darstellung interessiert sind, empfehlen wir:

Körkel, J. (2002). Kontrolliertes Trinken: Eine Übersicht. Suchttherapie (2002), 3, 87-96.

In diesem Übersichtsbeitrag finden Sie auch Quellenangaben, auf die wir im Folgenden aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet haben.

Prävalenz riskanten und schädigenden Alkoholkonsums

3,9 Millionen der 18-59-jährigen Deutschen erfüllen die DSM-IV- Kriterien für "Alkoholmissbrauch" oder "Alkoholabhängigkeit". Störungen durch Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit sind bei Männern die im Laufe ihres Lebens am häufigsten auftretenden psychischen Störungen (nach Tabakabhängigkeit; 14% Lebenszeitprävalenz). Alkoholbezogene Störungen gehen sehr häufig mit unterschiedlichen anderen psychiatrischen und somatischen Störungen einher (Komorbidität), wie z.B. affektiven, Angst- und Persönlichkeitsstörungen, diversen neurologischen Erkrankungen im Bereich von ZNS, PNS und Muskulatur sowie gastrointestinalen Erkrankungen. Menschen mit alkoholbezogenen Störungen tauchen zuvorderst im medizinischen Hilfesystem und nicht in der traditionellen Suchtkrankenhilfe auf: 80% finden mindestens einmal jährlich den Weg zum niedergelassenen Arzt und 34,5% in ein Allgemeinkrankenhaus, aber nur 1,7% in eine Suchtfachklinik, 3,7% in die Abteilung eines Psychiatrischen Krankenhauses.

Über Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit hinaus erscheint eine Blickerweiterung auf deren Vorläufer, nämlich den riskanten Alkoholkonsum, vonnöten. Dieser wird - extrem konservativ geschätzt - von 5,8 Millionen der 18-59-jährigen Deutschen tagtäglich praktiziert. Von riskantem Konsum spricht die WHO bei Überschreiten einer Tagesmenge von 20g (bei Frauen) bzw. 30g Ethanol (bei Männern), ohne dass körperliche Schädigungen oder diagnostizierbarer Missbrauch/Abhängigkeit bereits eingetreten wären. 20 Gramm Ethanol sind in 0,5l Bier (5% vol.) bzw. 0,2l Wein/Sekt (12,5%) bzw. etwa drei einfachen Schnäpsen (40%) enthalten. Ab der genannten Konsummenge von 20/30g nimmt das gesundheitliche Folgenrisiko deutlich zu. Beispielsweise zieht ein Tageskonsum von mehr al 60g Ethanol ein 3,3fach erhöhtes Risiko für eine Erkrankung an einem Ulcus duodeni (Zwölffingerdarmgeschwür) nach sich, bei Frauen steigt das Leberzirrhoserisiko bei einer Tagesdosis von 70g Ethanol um das 100fache.


Fazit: Überhöhter Alkoholkonsum mit weitreichenden Folgen für die somatische und psychische Gesundheit des Konsumenten und seines sozialen Umfeldes ist in Deutschland weit verbreitet. Das medizinische Behandlungssystem kommt mit der Mehrzahl dieses Personenkreises in Kontakt und hat dementsprechend die Chance, alkoholbezogene Probleme zu thematisieren und zu minimieren. Unter ärztlicher Perspektive sollten dabei nicht nur die bereits eingetretene Störung (Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit), sondern deren Vorformen im Sinne des riskanten Konsums (20- bzw. 30-40g-Grenze) ins Blickfeld gerückt werden.


Warum kT-Angebote

Warum sollte man in Ergänzung zu abstinenzorientierten Hilfeangeboten auch solche zum kT vorhalten? Drei Gründe sprechen hierfür:

  • Autonomiewahrung des Konsumenten (ethisches Argument)
    Nach einem ersten Argument erfordert es das Recht auf Autonomie des Menschen (bzw. freie Entfaltung oder Unverfügbarkeit der Person), Therapieziele nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Klienten zu verfolgen. Daraus ergibt sich als ethische Notwendigkeit, die Behandlungszielfrage (Abstinenz oder kontrolliertes Trinken?) explizit und sanktionsfrei ins Gespräch zu bringen, das Für und Wider dieser Ziele zu erörtern und letztlich das Ziel aufzugreifen, das der Klient für sich anstreben möchte. 63% der australischen Einrichtungen, die Hilfen zum kT anbieten, arbeiten nach diesem Prinzip.
  • Verbesserung der Erreichbarkeit der Zielgruppe (gesundheits-/versorgungspolitisches Argument)
    Die deutsche Suchthilfe erreicht mit ihren Angeboten nur einen Bruchteil der Menschen, die Unterstützung wegen eingetretener oder drohender Alkoholprobleme bedürfen. Die Erreichbarkeit der Zielgruppe könnte verbessert werden durch Verzicht auf eine A-priori-Abstinenzforderung und diagnostische Etikettierungen; zeitlich kurze und auf diese Weise attraktive Programmangebote zum kT; einen leichten Zugang zu Selbsthilfematerialien zum reduzierten Alkoholkonsum; die Thematisierung problematischen Alkoholkonsums im gesamten (nicht zuletzt medizinischen) Hilfesystem.
  • Förderung des therapeutischen Prozesses und Erfolges (therapeutisches Argument)
    Gemäß einem dritten Argument ist (auch) von Suchtbehandlung zu fordern, dass sie ehrliche Zielaussagen der Klienten und ihre innere Bindung an ein Ziel ("commitment") fördert und die Therapie mit expliziten, klaren Zielabsprachen beginnt. Zieloffenheit ist eine Vorbedingung dafür, Patienten in ihrer Zielambivalenz zu erreichen und den Zielentscheidungsprozeß "in der Therapie und nicht gegen sie zu absolvieren" und sich als Therapeut weniger in Kontrollkämpfe zu verwickeln. Zudem: Letztlich weist diejenige Therapie das beste Behandlungsergebnis auf, bei der das offizielle Behandlungsziel mit dem vom Patienten bevorzugten Ziel in Übereinstimmung steht.
Zusammengefasst ist eine zieloffene Herangehensweise an Alkoholprobleme ethisch geboten, dem Erreichen bislang unerreichter Adressaten dienlich und hilfreiche oder gar notwendige Bedingung zum Herstellen eines psychotherapeutischen Arbeitsbündnisses.

Wirksamkeit und Wirkkomponenten

Inzwischen liegen vielfältige Befunde zur Prävalenz von kT sowie zu (differentieller) Wirksamkeit und Wirkkomponenten von Behandlungsansätzen zum kT vor.
  • In nahezu jeder Katamnese, die das Trinkverhalten nach abstinenzbezogener Behandlung überprüft, sind Alkoholabhängige mit einem kontrollierten Trinkverhalten zu identifizieren - obwohl zumindest in Deutschland in Abstinenztherapien keine Hilfestellungen zum kT gegeben werden und davor in der Regel ausdrücklich gewarnt wird ("one drink one drunk").
  • Nach verschiedenen narrativen und statistischen Metaanalysen sind Interventionen mit dem Ziel des kT wirksam, und zwar was die Reduktion des Trinkverhaltens als auch die Verminderung alkoholassoziierter Probleme anbelangt. Genauer besehen sind Interventionen zum kT wirksamer als gar keine Intervention (no treatment control) und andere, nicht auf Abstinenz abzielende Interventionen (z.B. eine Alkohol-Informationsgruppe). Die kT-Studien, auf denen diese Ergebnisse beruhen, beinhalten klinisch bedeutsame Behandlungen im Sinne von Shadish et al.: Sie wurden in einem klinischen Behandlungssetting durchgeführt, benutzten die üblichen Überweisungskanäle für Klienten und wurden von Therapeuten durchgeführt, die auch sonst in der klinischen Versorgung tätig sind.
  • Besonders aufschlussreich ist Walters' metaanalytischer Befund, dass kT-Programme abstinenzbezogenen Programmen mindestens ebenbürtig, längerfristig tendenziell sogar überlegen sind: "The results of this meta-analysis denote that, at the very least [Hervorhebung J.K.], behavioral self-control training is equivalent to abstinence-oriented forms of intervention in terms of overall effectiveness, stability of outcomes, and potential clientele". Und: "Behavioral self-control training met with greater success than abstinence-oriented intervention at a level that bordered on statistical significance in follow-ups lasting a year or longer".
  • Differenziert man die Ergebnisse zum kT nach Vermittlungswegen, so sind Selbstkontrollmanuale - auch bei computerisierter Vorgabe -, therapeutische Einzel-/Gruppenprogramme und ärztliche Kurzinterventionen zur nachhaltigen Trinkmengenreduktion oder Förderung der Abstinenz nachweislich geeignet.
    Zwischen Einzelprogrammen, Gruppenprogrammen und Bibliotherapie (mit minimaler therapeutischer Anleitung) ergeben sich keine bedeutsamen Ergebnisunterschiede. Für ärztliche Kurzinterventionen wurden die dadurch bewirkten Kostenersparnisse für das Gesundheitswesen geprüft und bestätigt. Zur Wirksamkeit kontrollfördernder Selbsthilfegruppen liegen bislang keine aussagefähigen Studien vor.
  • Programme zum kT erzielen bei einer Katamnesezeit von mindestens einem Jahr eine durchschnittliche Erfolgsquote von 65%, wobei als Erfolg sowohl ein reduzierter Alkoholkonsum (geringere Anzahl alkoholischer Getränke an Trinktagen; geringerer Wochenkonsum; oftmals auch Erhöhung der Anzahl abstinenter Tage) als auch dauerhafte Abstinenz gewertet werden. In diese Durchschnittsquote gehen Studien mit unterschiedlichen Operationalisierungen des kT, Nacherhebungszeiträumen und Stichproben ein, weshalb nicht verwundert, dass das Erfolgsspektrum zwischen den Studien von 25% bis 90% reicht. Die Erfolgsraten fallen höher aus, wenn ein kT-Programm einige Zeit später von einer oder mehreren Auffrischsitzungen (booster sessions) gefolgt wird.
  • Die Trinkmengenreduktion durch kT-Programme beträgt im Mittel etwa 50%.
  • Durch kT-Programme werden nicht nur Trinkmengenreduktionen, sondern auch Abstinenzentscheidungen begünstigt: Bereits während der Teilnahme an Programmen zum kT gelingt es einem Teil der Personen, die mit kT nicht den gewünschten Erfolg erzielen, zur Abstinenz überzugehen, andere Teilnehmer mit mehr Unterstützungsbedarf können in weitergehende abstinenzorientierte Angebote vermittelt werden.
  • Langzeitstudien demonstrieren, dass systematisch erlerntes kT über viele Jahre erfolgreich aufrecht erhalten werden kann und das erste Jahr erfolgreichen kontrollierten Trinkens eine gute Vorhersagemöglichkeit für die Beibehaltung dieses Verhaltens über die folgenden acht Jahre liefert. Der Einwand, kT gelinge - falls überhaupt - immer nur kurzfristig und werde von Rückfällen in das alte Konsumverhalten abgelöst, ist empirisch nicht nur unbelegt, sondern nach diversen Einzelstudien und Walters' statistischer Metaanalyse der Forschungsliteratur widerlegt: "There is no evidence in the current meta-analysis to support the claim of opponents of controlled drinking that the effects of behavioral self-control training are temporary, transient, or unstable".
  • Es ist kein Widerspruch zu dem zuvor aufgeführten Befund, dass mit zunehmendem Abstand vom Behandlungsende die durch kT-Programme erzielten Effekte zurückgehen - gilt dies doch in mindestens gleichem Ausmaß auch für abstinenzorientierte Programme, wie Rosenberg in seiner Übersicht über die kT-Forschung feststellt: "periods of relapse are likely whether an alcoholic attempts CD or abstinence". Dabei bleibt sogar unberücksichtigt, dass die Erfolge von Abstinenzbehandlungen durch daran anschließende Selbsthilfegruppenteilnahme oder ambulante Beratung/Therapie begünstigt werden. Es liegt nahe, dass die Erfolge von kT-Programmen auf diesen Wegen ebenfalls gesteigert werden könnten.


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